»Der Schrei« von Leiko Ikemura

»Der Schrei« von Leiko Ikemura

Im Rahmen des Ausstellungsprojektes „SEIN.ANTLITZ.KÖRPER“ schuf die japanische Künstlerin Leiko Ikemura vier Frauenfiguren aus Keramik für die leeren Nischen an den Emporen der Predigtkirche.

Die Figuren lassen die Augen der Dombesucher immer wieder stolpern und werfen vielen Fragen auf: Gehören die Skulpturen in den Dom? Waren sie schon immer hier? Wer sind diese Frauen? Warum haben sie keine Gesichter? 

Pfarrer Christhard-Georg Neubert ist Kunstbeauftragter der Landeskirche und berät das DKK bei der Entscheidung über den Erwerb der Figurengruppe von Leiko Ikemura, die seit 2016 in der Predigtkirche zu sehen ist.sich in einem Interview gegenüber Mitgliedern des Kunstreises am Berliner Dom zu den Skulpturen von Leiko Ikemura.

Wann haben Sie die Figuren zum ersten Mal bemerkt und wie war Ihre spontane Reaktion?

Ich meine, es war zu Beginn eines Gottesdienstes, als die Orgel zu spielen begann und mein Blick die Figuren streifte und an Ihnen hängenblieb. Ich war erstaunt, verblüfft; fühlte mich getroffen von fremdem Blick in dem mir doch vertrauten, etwas musealen, in sich scheinbar so stimmigen Kirchenraum.

Wer ist die Künstlerin - wer ist Leiko Ikemura?

Die in Berlin lebende Künstlerin Leiko Ikemura (geb. am 22. August 1951) ist eine japanisch-schweizerische Malerin, Grafikerin und Bildhauerin. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Japan, wo sie an der Fremdsprachen-Universität von Osaka spanische Literatur studierte. 1972 setzte sie das Studium in Spanien fort. Zwischen 1973 und 1978 studierte sie dann Malerei in Sevilla. Anfang der 1980er Jahre lässt sich Ikemura in der Schweiz nieder und ihre Werke werden erstmals in Deutschland ausgestellt. Sie wird Stadtzeichnerin der Stadt Nürnberg und lässt sich 1985 in Köln nieder. 1991 wird Ikemura Professorin für Malerei an der Hochschule der Künste in Berlin. Zahlreiche internationale Ausstellungen, Lehrtätigkeiten, Auszeichnungen und literarische Beiträge zum Werk der Künstlerin bezeugen die Bedeutung, die ihrem Werk beigemessen wird. Leiko Ikemura gilt als eine der wichtigsten Künstlerinnen der Gegenwart. Ikemura beschäftigt sich seit Mitte der 1990er Jahre vorwiegend mit weiblichen Figuren und kosmischen Landschaften. Leiko Ikemuras Werk ist beeinflusst von einer traditionellen japanischen Ästhetik, in der ein universales und spirituell grundiertes Verständnis von Schönheit und geistigen Werten bestimmend ist.

Die Figuren wurden als ortsspezifische Arbeiten für den Dom, für die Emporennischen angefertigt. Kirchliche Auftragskunst war in früheren Zeiten die Regel. Was ist die Schwierigkeit dabei mit zeitgenössischer Kunst?

Der Begriff Auftragskunst hat durch bestimmte historische Entwicklung einen negativen Beigeschmack bekommen. Das hat vor allem damit zu tun, dass insbesondere in diktatorischen Regimen Aufträge an Künstler vergeben wurden mit dem Ziel, die Richtigkeit der politischen des jeweiligen politischen Systems zu bestätigen, die Machthaber und ihre Institutionen in positivem Licht erscheinen zu lassen. Gegen dieses Verständnis wandten sich Künstler in Deutschland insbesondere nach dem Ende der NS-Diktatur und folgten allein ihrem eigenen Auftrag, ihren inneren Instanzen, den eigenen Gesetzen von Farbe, Form, Material. Gleichwohl hat es Auftragskunst zu allen Zeiten gegeben; denken wir nur an Familienportraits oder an Kunstwerke, die Unternehmen und Ihre Produktionsstätten und Produkte repräsentieren sollen. Selbstverständlich ist die Kirche bis heute Auftraggeber von Kunstwerken; wobei die Ergebnisse vor allem dann überzeugen, wenn aus dem Spannungsfeld von Freiheit des Auftraggebers und Freiheit der Kunst kein Gegensatz gemacht wird. Und genau dies lässt sich an den Figuren von Leiko Ikemura für den Berliner Dom auf‘s Glücklichste erkennen.

Die Figurengruppe kann vom Betrachter als (ver)störend empfunden werden. Darf zeitgenössische Kunst in einem Kirchenraum das?

Aber ja! Es wäre ein Missverständnis anzunehmen dass die Kunst in der Kirche die Aufgabe hätte, alles das, was wir schon gefühlt und gedacht haben, lediglich zu bestätigen. Sind nicht auch unzählige biblische Texte massiv und immer wieder neu verstörend? Denken Sie beispielsweise nur an die Kreuzigung Jesu, den Verrat des Petrus, die Aufforderung zur Opferung Isaaks. Denken Sie nur an die Musik, die in dieser Kirche erklingt, etwa an Johann Sebastian Bach’s Matthäuspassion. Ja große Kunst ist wohl immer und zu allen Zeiten verstörend. Wäre es anders, verlöre die Kunst einen wesentlichen Teil der ihr eigenen, innewohnenden Kräfte.

Viele sehen in den „Gesichtern" einen Schrei, Schmerz und Verzweiflung. Für andere sind sie Ausdruck der Bildlosigkeit des Glaubens, eine Projektionsfläche für alles Menschliche und ein heilsamer Ruhepol in der alltäglichen Bilderflut. Was sehen Sie? 

Wo der Betrachter das Gesicht der Frauengestalten sucht, bietet sich dem Blick eine einzigartige große Öffnung dar, die im Bildgedächtnis den berühmten Gemäldezyklus (zwischen 1893 und 1910) von Edvard Munch aufruft. Hier wie dort symbolisiert der stumme Schrei die kreatürliche Angst des Menschen vor dem, was hinter ihm liegt, vor dem, was kommt; die Ungewissheit,  Einsamkeit und Isolation, Sprachlosigkeit und unerfüllte Sehnsucht nach Stille und Frieden, Fremdheit in der Welt und gegenüber sich selbst, Verzweiflung, Todesangst … Unausgesprochen aber eben doch wahrnehmbar zeichnen Leiko Ikemuras Figuren die Frage aller verzweifelten und von Scheitern bedrohten Menschen in den Kirchenraum ein; es ist die eine Frage aus Psalm 22, die ungezählte Male Menschen an Gott richteten, es ist die eine Frage Jesu am Kreuz: „…mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“  

Entdecken Sie neben dem Kontrast und den Widersprüchen auch Gemeinsamkeiten und Bezüge zwischen den Figuren und dem übrigen Bildprogramm des Domes?

Ja, vielleicht liegen die jeweiligen Bezüge weniger im Kontrast, den ich eigentlich kaum wahrnehme, sondern in den Reibungen zum vorhandenen Bildprogram: in der Art des Materials, der formelhaften Zeichenhaftigkeit, in der Formensprache. Hier werden wohltuende Spannungen erzeugt, die den Kirchenraum aus der Formensprache des späten 19. Jahrhunderts sehr zurückhaltend aber erkennbar in Bezug setzen zu unserer Gegenwart.

Was bewirken die Kunstwerke in Bezug auf unsere Liturgie und unsere Glaubensausübung?

Diese Frage ist gegenwärtig noch schwer zu beantworten, denn die Antwort liegt auch hier wie so oft im Erleben der Betrachtenden. Gleichwohl aber sollten wir uns erst einmal auf die Figuren einlassen und dann schaun, welche Wirkungen sie im Stillen tun: Dann werden wir sehen ...

Die Skulpturen stellen Frauengestalten dar. Welche Rolle spielt das im Rahmen der vorhandenen Gestaltung der Predigtkirche?

Jenseits aller Genderlogiken thematisiert die Figurengruppe eine im vorhandenen Bildprogramm des Berliner Doms bisher schmerzlich unterrepräsentierte Gruppe: die Frauen. Wie lange wollen wir noch der Frage ausweichen, warum Frauen in der evangelischen Ikonografie bisher so unterrepräsentiert sind, angesichts einer Christentumsgeschichte, die doch nicht zuletzt eine Geschichte der Frauen ist? Waren es nicht die Frauen, die sich zuerst aufmachten zum Grabe Jesu? Waren es nicht die Frauen, die dem Schmerz unter dem Kreuz standhielten neben dem einen Jünger Johannes? Müssen wir uns nicht gründlicher fragen, welche Rolle Frauen im kulturellen Gedächtnis des Christentums spielen und künftig spielen sollten? In der katholischen Tradition sind neben Maria auch die vier Märtyrerfrauen - virgines capitales - präsent. Auch im ökumenischen Festtagskalender haben sie ihren Platz: Barbara, Katherina, Margareta, Dorothea. Aber sind diese Frauen, ihr Schicksal, ihr Beispiel Thema im Konfirmandenunterricht, in der evangelischen Erwachsenenbildung, Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung?
Auffällig ist an den Figuren Leiko Ikemuras aber noch etwas anderes: die vier Frauengestalten, die Auftragsgemäß die virgines capitales darstellen sollten, tragen keine der klassischen Attribute der Märtyrerfrauen. Somit wendet die Künstlerin das Martyrium der vier Frauengestalten in das Martyrium aller geängstigten, geschundenen, verzweifelten und zu Tode gebrachten Frauen unserer Tage. Damit wird dem Karfreitagsbild über dem Petrusaltar eine weibliche Karfreitagssymbolik unserer Gegenwart inmitten der Predigtkirche an die Seite gestellt. Auffälligerweise umschließt die Hand einer Frauengestalt einen kleinen Vogel. Symbolisiert dieser Vogel die Taube aus der Arche Noah auf der Suche nach festem Land, nach Zukunft? Symbolisiert der Vogel die Taube als Zeichen des Heiligen Geistes? Oder geht die Antwort in eine ganz andere Richtung? Die Antwort bleibt offen.

Würden Sie die dauerhafte Ausstellung in der Predigtkirche begrüßen?

Ja. Unbedingt.

Das Gespräch führten Claudia und Konrad Asemissen

Stellungnahme des Kunstbeauftragten für das Domkirchenkollegium


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